Täglicher Wahnsinn – Das Herz im Schweinsgalopp (Adrienne Braun)

(Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Mittendrin und außen vor: Stuttgarts stille Ecken“ von Adrienne Braun und wurde uns mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Südverlag GmbH zur Verfügung gestellt.)

Manche Leute bekommen feuchte Hände, andere trommeln auf den Tisch oder japsen atemlos. Ich dagegen beiße auf die Zähne. Unauffällig und ausdauernd. Sobald ich nervös werde, beginnt der Vierer oben links wie ein Specht auf die Krone unter ihm zu hämmern. Die Schneidezähne scheuern, die Backenzähne klappern wie die Mühle am rauschenden Bach. Klipp klapp. Klipp klapp. Wenn das Kiefergelenk dann beinahe ausgekugelt ist, beschließe ich jedes Mal erneut: So kann es nicht weitergehen mit mir. Ich muss mein Leben ändern. Damit ich auch morgen noch kraftvoll zubeißen kann. Aber natürlich geht alles genauso weiter wie immer. Stress, Termindruck, Hetze. Großbaustelle am Bahnhof. Dauerstau auf der Hauptstätter Straße. Hohes Verkehrsaufkommen im Heslacher Tunnel. Ein trödelnder Lastwagen am Waldfriedhof. Schnarchzapfen, die an der grünen Ampel bremsen. Dösköppe, Dussel und Deppen allüberall. Und schon beginnt der Vierer oben links munter wie ein Specht zu hämmern, und scheuern die Schneidezähne den Schmelz bröselig. Wenn die Zähne aber irgendwann gar nicht mehr aufhören zu klappern, wenn dazu die Finger Ratatata trommeln, das Ohr piepst, die Stimme kiekst und sich schließlich das Herz zu diesem fröhlichen Hauskonzert auch noch mit hektischen Sechzehntel-Schlägen dazugesellt, dann ist es höchste Zeit: raus aus allem Trubel, abschalten, runterfahren und das Nichts spüren. Bloß – wo will man in Stuttgart das Nichts spüren, wenn ständig gebohrt, gebaggert und gebaut wird? Die Luft ist dick, der Verkehr enervierend. Stuttgart, die Hauptstadt der Staus und Großbaustellen. Menschenmassen schieben sich durch die Innenstadt, belagern die Bänke, bevölkern die Bäder, blockieren die Bars, Cafés, Restaurants. Und wenn man endlich ein friedliches Plätzchen gefunden hat, hockt sich garantiert jemand dazu und telefoniert. Jeder Mensch hat ein Recht auf Erholung, heißt es in Artikel 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dieses Recht leben auch die Stuttgarter leidenschaftlich gern aus und marschieren im Pulk durch den Rosensteinpark. Kinderwagenkolonnen werden durch die Wilhelma geschoben, am Killesberg schnauft das Bähnchen im Dauerbetrieb. Und an den Bärenseen bricht der Park-Such-Verkehr regelmäßig zusammen. Haselünne hat sein Moor, Graal-Müritz das Meer, Ramsau seine Berge. Und Stuttgart? Irgendwo muss man sich doch an der Kraft der Natur laben können, ganz Mensch, ganz Tier sein? Bloß wo?