Stille, die vom Sinn erzählt (Thomas Gutknecht)

Miniatur für die Ideengeber des Projekts „Initiative für das Garnisonsschützenhaus“ in Stuttgart

Orte der Stille suchen wir – anders als das stille Örtchen – nicht um etwas loszuwerden, sondern um einzukehren bei uns selbst. Solche Einkehr ist ein wahrhaft intimer Vorgang. Sie bedarf nicht des geschlossenen Raums, sondern einer Öffnung: „sprachaufwärts“ ins Dialogische. Das ist das Paradox des Schweigens, dass in ihm erst das Wort ersteht. Nicht die Äußerung, eine bloße Mitteilung oder gar eine Parole oder Geschwätz und Gerede sind gemeint, sondern eben das Wort mit seinem Bezug zum Sinn und zum Anderen.

Sich lossagen vom Lärm ist dabei wichtig. Doch die äußere Stille ist hierbei allenfalls ein Vehikel. Das Leben steht – wäre es sonst lebendig? – nie still und ist eben gelegentlich auch recht laut. Der Kirchhof ist nicht der gesuchte Ort. Friedhofsruhe, wenn nicht ganz schlicht wörtlich gemeint und getragen von Vogelgezwitscher oder Blätterrauschen, dem gelegentlichen Geklapper der Friedhofsgärtner oder auch einem schon selten gewordenen Posaunenchor im weitläufigen Gelände, Friedhofsruhe ist nur dann keine zweischneidige Sache, wenn sie tatsächlich zum Innehalten einlädt. Doch solche Oasen der Ruhe lassen sich auch anderswo finden, leichter jedenfalls als das, worauf es ankommt: nämlich die Stille des Geistes, die Ruhe des Gemüts, das Schweigen des Leibes.

Mir ist das gelegentlich zuteil geworden, dass ich solch einen Ort der Stille finden durfte, etwa zu einer Mittagsstunde am Ufer des Chiemsees. Zurückdenkend kann ich mir kaum vorstellen, dass es für Ohr und Auge und die übrigen Sinne nichts zu tun gegeben haben sollte. Aber die aufbehaltene Erfahrung des Erlebten sagt: da war tiefe Stille. Um mich und in mir. Und in dieser Stille ergab sich wie von selbst eine Verbundenheit, die betörend war. Ich habe heute ein meditatives Gedicht zur Verfügung, das in etwa dies zur Sprache bringt: „Der Besetzer / meiner Stundenhäuser / treibt mir / in seiner Liebeslist / aus meinem Tag / die ganze Zeit. / Jetzt sind wir / stundenlos / zusammen.“ (Silja Walter) Wie lange diese Zeitlosigkeit, für die es keine Uhren gibt, „gedauert“ haben mag, weiß ich nicht. Sollten es auch nur Sekunden gewesen sein, das Fenster ins Ewige stand lange genug offen, um durch ein Erdenleben zu begleiten. Andere Stille-Erfahrungen könnte ich noch berichten. Sie würden Geschichten erzählen, die immer wieder begegnen: eine Art von „Entrückung“ beim Betrachten tanzender Schneeflocken im schon zugeschneiten Hof, wo der Schnee wie ein Dämpfer den Schall schluckt, vor Mitternacht noch, der aber bereits ein langer Winterabend vorausgegangen war. Oder eine Herbstfrühe, wo die Sonne den dünnen Nebel von der Wiese nimmt und der Morgentau tanzt… Darüber nichts weiter, denn es ist so privat wie zugleich (hoffentlich) vielfach gebrochen im Erleben von Millionen.

Was mir bedenkenswert erscheint im Blick auf die Stille, das sind keine Begebnisse in und mit der Natur, sondern es ist die Bedeutung der Stille für das personhafte Leben. Ich habe schon davon gesprochen, dass das Wort nur in der Stille sich formt und das Schweigen der Raum ist, in dem es erscheint. Und ich füge hinzu, dass das Wort – wie die Sprache überhaupt – zumindest zwei Personen voraussetzt. Das Dialogische, von dem ich zuerst reden möchte, ist auf die Schweigsamkeit (nicht Verschwiegenheit) angewiesen. Als Kronzeugen bemühe ich dafür Martin Buber, dem Denker des Dialogischen schlechthin: „Ich kenne dreierlei Dialog: den echten, gleichviel geredeten oder geschwiegenen, wo jeder der Teilnehmer den oder die anderen in ihrem Dasein und Sosein wirklich meint und sich ihnen in der Intention zuwendet, dass lebendige Gegenseitigkeit sich zwischen ihm und ihnen stifte; den technischen, der lediglich von der Notdurft der sachlichen Verständigung eingegeben ist; und den dialogisch verkleideten Monolog, in dem zwei oder mehrere im Raum zusammengekommene Menschen auf wunderlich verschlungenen Umwegen jeder mit sich selber reden.“ Und an anderer Stelle: „Dialogisches Leben ist nicht eins, in dem man viel mit Menschen zu tun hat, sondern eins, in dem man mit den Menschen, mit denen man zu tun hat, wirklich zu tun hat. Monologisch lebend ist nicht der Einsame zu nennen, sondern wer nicht fähig ist, die Gesellschaft, in der er sich schicksalsmäßig bewegt, wesensmäßig zu verwirklichen.“

Allein aus diesen beiden Passsagen lassen sich einige Klärungen ableiten zur Unterscheidung der Geister: Stille braucht nicht unbedingt die Abgeschiedenheit. Beisichsein und Einkehr bei sich steht nicht im Widerspruch zur Verbundenheit. Worum es beim Gebrauch des „Wortes“ (ausgesprochen oder nicht) geht, das ist, dass man das Du meint. Wieder gibt es da ein Paradox, nämlich dass die Kultur der Stille, die mir hilft, meine eigene Stimme zu finden und zu meiner eigenen Stimme zu finden, dass diese Kultur es ist, die ermöglicht, ein wirklichkeitsgesättigtes Wort zu sprechen, das zur Existenzmitteilung an andere wird. Die Struktur ist: Für mich – um deinetwillen. Weiter leite ich aus Bubers Hinweis ab, dass nicht wichtig ist, ob gesprochen wird oder nicht, sondern in welcher Weise die Zwiesprache auf das „Zwischen“ von Ich und Du bezogen ist. Es gibt daher zwei Pole des Verzichts auf die gesprochene Sprache: einmal, weil man nichts zu sagen weiß oder weil es nichts zu sagen gibt. Von dort aus erhebt sich das weite Land für das zu besprechende Etwas, das „Reich“ der „Etwas-Leute“, wie ich mit Tucholsky am Ende ausführen werde. Schließlich muss zuguterletzt die Sprache abdanken, weil jedes weitere Wort „zu viel“ wäre und damit, den Sachverhalt unterbietend, zu wenig sagen würde. Nicht nur weil einem die Worte fehlen, im Guten wie Schlimmen, sondern weil es Angelegenheiten oder Geschehnisse gibt, wo sich nur zeigt und zeigen kann, was es damit auf sich hat. Aphoristisch: „Unbildung ist stumm, Halbbildung beredt, Bildung schweigsam.“ (Hans Kudszus) Viele Worte neigen auch dazu, Wirklichkeiten zu zerreden.

Doch rede ich nicht der Gefühligkeit das Wort. Im Gegenteil. Was Substanz hat, gerade dies, verträgt bzw. hat zur Voraussetzung die Kritik. Dafür steht ein wunderbares Gedicht.

DIE LIEBE (Rainer Kunze)

Die liebe
ist eine wilde rose in uns
Sie schlägt ihre wurzeln
in den augen,
wenn sie dem blick des geliebten begegnen
Sie schlägt ihre wurzeln
in den wangen,
wenn sie den hauch des geliebten spüren
Sie schlägt ihre wurzeln in der haut des armes,
wenn ihn die hand des geliebten berührt
Sie schlägt ihre wurzeln,
wächst wuchert
und eines abends
oder eines morgens
fühlen wir nur:
sie verlangt
raum in uns

Die liebe
ist eine wilde rose in uns,
unerforschbar vom verstand
und ihm nicht untertan
Aber der verstand
ist ein messer in uns

Der verstand
ist ein messer in uns,
zu schneiden der rose
durch hundert zweige
einen himmel

Die Rede ist vom Leerraum für Wachstum. Was von sich her Kraft zum Wachstum hat, braucht allenfalls Form und eventuell die Fürsorge für ein gutes Gedeihen. Und so braucht es – im Beispiel – die gärtnerische Fähigkeit oder Weisheit, der Rose „durch hundert Zweige einen Himmel“ zu schneiden. Das braucht das Gespür für das Maß. Hier helfen die rechten Worte, sich zurecht zu finden. Das Wachstum selbst vollzieht sich und Reifung geschieht in aller Stille. Eingriffe wirken spektakulärer. Aber sie setzen doch die Eigenzeiten und die Ruhe für die Entfaltung voraus. Die laute Welt des Machens kennt allenfalls „ruhig“, das heißt „gleichmäßig“ laufende Maschinen und Motoren. Im übrigen ist die Dauerbeschallung doch ein Oberflächenphänomen und „monoton“. Dann doch besser das wilde Leben, das Singen, Musizieren, Lachen – ja selbst das Kindergeschrei. Denn hier gibt es noch Takt und Rhythmus, und damit wie das Ausatmen und Einatmen, das Aufnehmen und Ausscheiden für jedes seine Zeit. Irgendwann kommen auch wieder die Ruhe und die Stille zum Zug. Der flirrenden Welt einer haltlosen Zeit ohne Rhythmen aber, die die Nacht zum Tag macht und die Beschleunigung beschleunigt, muss bewusst eine Grenze gezogen werden. Denen, die im Begriff stehen, sich zu verlieren, wird dabei allerdings schnell schwindlig. Auch da wieder ein Paradox: Wer sich so an die Unruhe gewöhnt hat, dem wird gerade bei dem schlecht, was in sich heilsam ist. Schon Pascal stellte seinen Zeitgenossen die Diagnose, dass das ganze Elend der Menschen in dieser Welt daher rühre, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen: „Nichts ist mehr geeignet uns in die Kenntnis des menschlichen Elends zu leiten, als die Betrachtung der wahren Ursache von der beständigen Unruhe, in welcher die Menschen ihr Leben hinbringen. Die Seele ist in den Leib gesetzt um darin kurze Zeit zu wohnen. Sie weiß, dass dieses nur ein Übergang ist zu einer Reise in die Ewigkeit und dass ihr nur die kurze Zeit, die das Leben dauert, gegeben ist um sich darauf vor zu bereiten. Die Bedürfnisse der Natur rauben ihr einen sehr großen Teil dieser Zeit und es bleibt ihr davon nur sehr wenig, worüber sie verfügen kann. Aber dies wenige, was ihr bleibt, fällt ihr so sehr zur Last, und setzt sie so sonderbar in Verlegenheit, dass sie nur dran denkt es zu verlieren. Es ist ihr eine unerträgliche Pein, dass sie genötigt ist mit sich zu leben und an sich zu denken. So ist es ihre einzige Sorge sich selbst zu vergessen und diese Zeit, die so kurz und so kostbar ist, verfliegen zu lassen ohne Betrachtung, unter der Beschäftigung mit Dingen, die sie hindern, daran zu denken.“

Selbst einem Pascal konnte das Schweigen des Alls Furcht einflößen. Aber bei sich eingekehrt, zu sich gekommen und sich auf das besinnend, was ist, verwandelt sich das Schweigen schließlich in Anrede. In ganz anderen Zusammenhängen, nämlich bildungstheoretischen, beschreibt Hegel das von mir hier gemeinte: „Die Pflicht des Stillschweigens ist eine wesentliche Bedingung für jede Bildung und jedes Lernen. Man muss damit anfangen, Gedanken anderer auffassen zu können. Es ist dies ein Verzichtleisten auf eigene Vorstellungen, und dies ist überhaupt die Bedingung zum Lernen, zum Studieren. Man pflegt zu sagen, dass der Verstand durch Fragen, Einwendungen, Antworten usw. ausgebildet werde; in der Tat wird er aber hierdurch nicht gebildet, sondern äußerlich gemacht. Die Innerlichkeit des Menschen wird in der Bildung erworben und erweitert dadurch, dass er an sich hält. Durch das Schweigen wird er nicht ärmer an Gedanken, an Lebhaftigkeit des Geistes. Er erlernt dadurch vielmehr die Fähigkeit, aufzufassen…“.

Jeder Mensch mit einer gewissen Fastenerfahrung weiß von diesem Gesetz, dass Verzichten zum Gewinn wird. Sich öffnen, um sich erfüllen lassen zu können, sich zurücknehmen, um dem anderen Raum zu geben: das verweist auf den tieferen Sinn des Stillewerdens. Die Erfahrung, die ich bezeugen kann, ist eindeutig: Zwar muss ich zuerst ein inneres Gleichgewicht und eine Balance mit der Mitwelt finden, um darin zur Ruhe kommen zu können, vielleicht mit Übungen des Geistes; denn am Ende muss die tranquillitas animi stehen, die „Meeresstille“ der Seele. Dann jedoch wird der Kosmos zur Anrede, die Welt zum Gesang, werden Worte zum Brot des Lebens. Die Du-Qualität des Kosmos kann nur in der Stille erfasst werden; nur so kommt das Unbedingte personhaft zu WORT…

Das klingt sehr „idealisiert“, ja geradezu zynisch in einer Welt voller Leid und Krieg, der Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung, dem psychischen und sozialen Elend, der Hungersnöte und Wasserknappheit. Vielleicht ist aber die knappste Ressource der Glaube an den letzten Sinn, den all das Verstörende und Schreckliche nicht zu zerstören vermag. Dazu braucht es die gelegentliche Erfahrung von Stunden, auf die ich einleitend hingewiesen habe. Wohl auch eine Erinnerung an das Vertrauenswürdige, das glücklicherweise für viele am Anfang des Lebens steht und das Urvertrauen heißt. Und eben eine Idee von der heilen Welt – nicht als billiger Trost, sondern als Hoffnungsgut. Wer nicht christlich hoffen kann, mag bei Ernst Bloch Inspiration suchen.

Es scheint nun eine Pädagogik der Stille und des Schweigens vor ähnlichen Schwierigkeiten zu stehen wie die, von denen Platon schreibt in seinem Höhlengleichnis. Da sind ja die Bewohner lange angebunden gewesen und nicht an die Freiheit gewöhnt. Der Schmerz der Bewegung und die Mühe des Aufstiegs gelten für so beschwerlich, dass man die Leute geradezu zwingen müsste. Für Platon mag der Zwang zum Glück eine Option gewesen sein. Uns bleibt nur die Überzeugungskraft. Mit Erich Fried: „Sag nicht, hier herrscht Freiheit. Denn Freiheit herrscht nicht.“ Erst recht zwingt sie dann nicht… Und die anderen, die die Sonne gesehen haben, erscheinen den Höhlenbewohnern, zurück im Dunkeln, wie Blinde, die sich die Augen verdorben haben und nichts mehr taugen im Alltag.

Eine letzte Schwierigkeit will ich noch nennen, die ich mit Tucholsky die der „Etwas-Leute“ bezeichne, die wir zunächst ja notwendigerweise alle sind. Aber wir können uns zumindest über diese Grenze unseres Sprechens verständigen, mit Witz und mit Phantasie. Tucholsky bringt, wie ein großer Humorist das tun muss, augenzwinkernd unter einem großmächtigen Titel, was uns schließlich Herz und Sinn aufschließen soll, weil es so komisch ist. In der Abhandlung „Zur Psychologie und Soziologie der Löcher“ lesen wir: „Ein Loch ist da, wo etwas nicht ist. Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, dann gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: Es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden, Loch ist immer gut. ( … )

Das Merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört noch zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: Während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Lochs … festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsere Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigne. Das Loch ist statisch; Löcher auf Reisen gibt es nicht. Fast nicht. Löcher, die sich vermählen, werden ein Eines, einer der sonderbarsten Vorgänge unter denen, die sich nicht denken lassen. Trenne die Scheidewand zwischen zwei Löchern: gehört darin der rechte Rand zum linken Loch? Oder der linke zum rechten? Oder jeder zu sich? Oder beide zu beiden?

Meine Sorgen möchte ich haben.

Wenn ein Loch zugestopft wird: wo bleibt es dann? Drückt es sich seitwärts in die Materie? Oder läuft es zu einem andren Loch, um ihm sein Leid zu klagen? – Wo bleibt das zugestopfte Loch? Niemand weiß das: unser Wissen hat hier eines. Wo ein Ding ist, kann kein andres sein. Wo schon ein Loch ist: kann da noch ein andres sein? Und warum gibt es keine halben Löcher? Größenwahnsinnige behaupten, das Loch sei etwas Negatives. (…)“.

Würden wir über eine derart vermögende „Sprache“ möglicher Loch-Leute verfügen, dann würde sicherlich die Stille begriffen werden als das Wertvollste, was es in einer Welt zwischen Sein und Nichtsein überhaupt gibt. Die Stille würde uns erzählen vom Sinn.

Der Autor Thomas Gutknecht wurde 1953 in Stuttgart geboren und hat in München, Salzburg und Tübingen Philosophie, Katholische Theologie, Germanistik und Pastoralpsychologie studiert. Seit 1983 unterrichtet er unter anderem als Dozent an der Akademie für Kommunikations-Design und Multimedia, am Kolping-Bildungszentrum Stuttgart, an Fachhochschulen und verschiedenen Einrichtungen der Erwachsenenbildung. 1991 hat er das Logosbüro (Reutlingen, jetzt Logos-Institut Lichtenstein-Reutlingen-Stuttgart) gegründet, in dem er seither neben einer freien Beratertätigkeit philosophisch „praktiziert“ und wirksam ist.

Täglicher Wahnsinn – Das Herz im Schweinsgalopp (Adrienne Braun)

(Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Mittendrin und außen vor: Stuttgarts stille Ecken“ von Adrienne Braun und wurde uns mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Südverlag GmbH zur Verfügung gestellt.)

Manche Leute bekommen feuchte Hände, andere trommeln auf den Tisch oder japsen atemlos. Ich dagegen beiße auf die Zähne. Unauffällig und ausdauernd. Sobald ich nervös werde, beginnt der Vierer oben links wie ein Specht auf die Krone unter ihm zu hämmern. Die Schneidezähne scheuern, die Backenzähne klappern wie die Mühle am rauschenden Bach. Klipp klapp. Klipp klapp. Wenn das Kiefergelenk dann beinahe ausgekugelt ist, beschließe ich jedes Mal erneut: So kann es nicht weitergehen mit mir. Ich muss mein Leben ändern. Damit ich auch morgen noch kraftvoll zubeißen kann. Aber natürlich geht alles genauso weiter wie immer. Stress, Termindruck, Hetze. Großbaustelle am Bahnhof. Dauerstau auf der Hauptstätter Straße. Hohes Verkehrsaufkommen im Heslacher Tunnel. Ein trödelnder Lastwagen am Waldfriedhof. Schnarchzapfen, die an der grünen Ampel bremsen. Dösköppe, Dussel und Deppen allüberall. Und schon beginnt der Vierer oben links munter wie ein Specht zu hämmern, und scheuern die Schneidezähne den Schmelz bröselig. Wenn die Zähne aber irgendwann gar nicht mehr aufhören zu klappern, wenn dazu die Finger Ratatata trommeln, das Ohr piepst, die Stimme kiekst und sich schließlich das Herz zu diesem fröhlichen Hauskonzert auch noch mit hektischen Sechzehntel-Schlägen dazugesellt, dann ist es höchste Zeit: raus aus allem Trubel, abschalten, runterfahren und das Nichts spüren. Bloß – wo will man in Stuttgart das Nichts spüren, wenn ständig gebohrt, gebaggert und gebaut wird? Die Luft ist dick, der Verkehr enervierend. Stuttgart, die Hauptstadt der Staus und Großbaustellen. Menschenmassen schieben sich durch die Innenstadt, belagern die Bänke, bevölkern die Bäder, blockieren die Bars, Cafés, Restaurants. Und wenn man endlich ein friedliches Plätzchen gefunden hat, hockt sich garantiert jemand dazu und telefoniert. Jeder Mensch hat ein Recht auf Erholung, heißt es in Artikel 24 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Dieses Recht leben auch die Stuttgarter leidenschaftlich gern aus und marschieren im Pulk durch den Rosensteinpark. Kinderwagenkolonnen werden durch die Wilhelma geschoben, am Killesberg schnauft das Bähnchen im Dauerbetrieb. Und an den Bärenseen bricht der Park-Such-Verkehr regelmäßig zusammen. Haselünne hat sein Moor, Graal-Müritz das Meer, Ramsau seine Berge. Und Stuttgart? Irgendwo muss man sich doch an der Kraft der Natur laben können, ganz Mensch, ganz Tier sein? Bloß wo?

Nichtstun als Chance – Wir müssen Innehalten neu lernen (Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann)

(Der Gastbeitrag wurde erstmals als Artikel der Zeitung Wirtschaftswoche, Ausgabe 25.12.2014 veröffentlicht. Danke an den Autor für die Genehmigung den Artikel online auf unserem Blog zu publizieren.)

Muße ist eine Chance, Dinge zu reflektieren. Doch es erfordert Mut und Kraft, einmal nichts zu tun – um dann vielleicht dorthin aufbrechen zu können, wo man tatsächlich auch hin will.

Wer aufbrechen möchte, muss vorher irgendwo gewesen sein. Wer sich ohnehin bewegt, bricht nicht auf, sondern geht einfach weiter. Nur aus einem Ruhezustand, einer Phase relativer Stabilität lässt sich aufbrechen. Das Mindeste, was einem Aufbruch vorhergehen muss, ist die Rast. Das Äußerste, was zu ihm treibt, kann ein Zustand sein, der ein Verweilen zunehmend unerträglich macht.

Wer den Ort, an dem er sich befindet, so schnell wie möglich verlassen will, bricht nicht auf, er flieht – vor einer Katastrophe, einem Feind, einem Verhängnis. Ein Aufbruch bedarf zumindest eines Moments von Freiheit – nur der bricht auf, der auch bleiben könnte.

Wir können nicht leben, ohne nicht immer wieder zu etwas Neuem aufzubrechen. Und doch durchzieht so manchen Aufbruch auch die Trauer des Abschieds: Dass es Zeit sei, aufzubrechen – wer in geselliger Runde diese Mahnung hört, spürt das unangenehm Fordernde des Aufbruchs. Man würde ja noch gerne etwas länger bleiben, aber der Aufbruch darf nicht mehr hinausgezögert werden.

Manchmal bricht man auch auf – aus einem Restaurant, aus einer Gesellschaft, aus dem Urlaub, aus der Fremde –, um zurückzukehren. Man war aufgebrochen, um sich nach einem Abend, einer Nacht, einigen Wochen, einem halben Leben wieder auf den Weg zu machen – dorthin, von wo man aufgebrochen war.

Das Pathos des Aufbruchs lebt vom Gestus des weiten Horizonts: aufbrechen ins Offene, das Sichere zurücklassen, zu neuen Ufern gelangen, sich dem Risiko und Wagnis einer Fahrt ins Unbestimmte und Ungewisse aussetzen, Neuland erkunden. Ins Unbekannte aufzubrechen versetzt uns in eine andere Spannung als ein routinierter Wechsel des Ortes. Der Aufbruch oszilliert so zwischen Erwartung und Abschied, zwischen Zukunft und Herkunft, zwischen Hier und Dort, zwischen Stillstand und Bewegung – allesamt Metaphern für unser Denken und Leben.

Allerdings: Die Moderne versteht sich als Gesellschaft in Bewegung. Sie ist immer schon aufgebrochen, hat erstarrte Verhältnisse hinter sich gelassen, alles Stehende und Ständische zum Verdampfen gebracht. Und seitdem heißt es: nur nicht verharren, nur nicht innehalten, immer dynamisch bleiben, immer vorwärts.

Eine Gesellschaft in Bewegung kann allerdings nirgendwohin mehr aufbrechen, denn sie ist immer schon unterwegs. Sowenig der Reisende, der sich mit hoher Geschwindigkeit auf einer vorgezeichneten Bahn bewegt, sich fragen kann, wohin er nun aufzubrechen gedenkt, sowenig kann sich eine Gesellschaft, die sich in einer Phase der rasanten, beschleunigten Veränderungen wähnt, fragen, ob es nicht allmählich an der Zeit wäre, aufzubrechen.

Die schöne Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Innehalten und Weitergehen, zwischen Verweilen und Aufbrechen, zwischen Muße und Aktivität geht in einer Zeit verloren, in der Unterwegssein zur einzig legitimen Daseinsform erklärt wird.Um in solch einer Gesellschaft überhaupt wieder aufbrechen zu können, müssten erst die Orte und Zeiten der Ruhe, der Muße, der Kontemplation wieder geschaffen und aufgesucht werden können, die jene Erfahrung erlauben, die jeden Aufbruch grundiert: Jetzt, nach einer Phase des Verweilens, ist es Zeit zu gehen. Erst dann könnten wir auch wieder fragen: Und wohin soll es gehen?

Rastlosigkeit unterbrechen

Aus einer Bewegung aufzubrechen erfordert so zumindest eine Zäsur; eine Unterbrechung; eine Rast. Diese mag nur dem erschöpften Körper, dem müden Geist wieder die Kraft zum Weitergehen verschaffen. Sie kann aber auch einen Punkt markieren, an dem die Ziele neu definiert werden.

So wie der Wanderer, der sich verirrt hat oder eine Rast einlegt, um sich neu zu orientieren, und dann mit neuen Kräften aufbricht, so könnten auch Menschen, Unternehmen und Kulturen ihre Rastlosigkeit unterbrechen und wenigstens kurz innehalten, um sich über ihre weitere Vorgehensweise klar zu werden und dann vielleicht in eine andere als die bislang eingeschlagene Richtung aufbrechen.

Vielleicht sollte man den Phasen, in denen sich Einzelne oder Gemeinschaften über die Richtung ihrer Entwicklung klar werden wollen, vielleicht sollte man all den Diskussionen um Standortbestimmungen und Zielvorstellungen wieder verstärkt den Charakter von Unterbrechungen und Moratorien geben, die es erlaubten, eine gelungene Neuorientierung, eine Änderung der Ziele und Perspektiven auch als Aufbruch, als einen Neubeginn, als bewusste Entscheidung zu erfahren und zu zelebrieren. Jeder Aufbruch bedarf auch seiner Rituale.

Die Gesten des Abschieds von dem, was man zurücklässt, gehören ebenso dazu wie die Formen und Formeln, durch die man sich seiner inneren und äußeren Bereitschaft versichert, einen neuen Schritt zu wagen.

Mut zur Denk- und Atempause

Im Selbstverständnis unserer Gesellschaft und ihrer Akteure ist für solche Zäsuren und ihre Rituale allerdings kein Raum mehr. Der von allen akzeptierte Imperativ des bedingungslosen Immerweiter erlaubt kein Innehalten, schon gar keine Umkehr, um andere Pfade als die beschrittenen zu versuchen.

Die Fortsetzung noch der unsinnigsten Reform wird ja gerne damit begründet, dass man doch nicht zu alten Zuständen zurückkehren könne. Das ist ungefähr so plausibel wie die Empfehlung an einen Autofahrer, der sich in eine Sackgasse manövriert hat, doch unbedingt weiterzufahren, notfalls auch gegen eine Wand, denn er werde doch nicht umdrehen und dorthin zurückkehren wollen, wo er schon einmal gewesen war.

Innehalten, um Fehlentwicklungen zu korrigieren, erforderte auch den Mut, Denk- und Atempausen einzulegen, Distanz zu gewinnen und notfalls zum Ausgangspunkt zurückkehren, um von dort eine andere Richtung einzuschlagen.

Die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch erwächst so aus einer Phase der Ruhe und Besinnung, die vielleicht noch immer am besten mit dem etwas aus der Mode gekommen Begriff der Muße gekennzeichnet ist. Das altgriechische Wort für „Muße“ war „scholé“, von dem sich auch unsere „Schule“ ableitet.

Es bezeichnete ursprünglich die Stätte, an der man sich aufhielt, wenn man nicht arbeiten musste. Die Antike sah in dieser Muße übrigens die entscheidende und erstrebenswerte Weise des Daseins überhaupt, die Arbeit hingegen als das, was eigentlich vermieden werden sollte. Arbeit war dann auch definiert als Negation der Muße: „ascholia“.

Diese Muße war allerdings alles andere als ein Nichtstun. Sie war keine leere Zeit, die mit Unterhaltung und Zerstreuung gefüllt werden musste, sondern die Zeit, über die man frei verfügte und die man konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnte, die ihren Wert in sich trugen und nicht Mittel zum Zweck waren: Schönheit, Erkennen, Freundschaft, Erotik.

Vom Wettbewerb getrieben

Im Müßiggang des Flaneurs mag sich dieses Konzept zumindest als Randphänomen auch in die Moderne gerettet haben. Der absichtslose, dennoch höchst aufmerksame Müßiggang ist dann auch die einzige Bewegung, die in einen Aufbruch umschlagen kann: Wenn es irgendwann dann doch etwas zu tun gibt.

Erst die Moderne machte aus der Arbeit eine Tugend und aus dem Müßiggang den Anfang aller Laster. Seitdem fürchten wir uns vor der Muße, bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn wir nicht ständig dynamisch, in Bewegung und produktiv sind. Und wenn wir uns einmal zurücklehnen und durchatmen wollen, nennen wir dies nicht mehr Muße, sondern Regenerationsarbeit. Noch in der Untätigkeit müssen wir tätig sein, auch der Schlaf will mittlerweile effizient organisiert sein.

Einer Gesellschaft, die sich diese Muße glaubt nicht mehr leisten zu können, wird aber die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch fehlen. Sie wird wohl in Bewegung bleiben, aber nirgendwohin aufbrechen können. Das ständig präsente Gefühl, von Märkten, Innovationen, dem Wettbewerb und der Konkurrenz getrieben zu sein, die omnipräsente Angst, sofort zurückzubleiben und alles zu verlieren, gönnte man sich nur eine Pause, die fatalistische Vorstellung, dass man nicht der Gestalter der Zukunft wäre, sondern nur auf diese reagieren könne, die Zustimmung zu einer Welt, in der angeblich die Sachzwänge kaum noch Besinnung und Alternativen zuließen – all dies sabotiert jeden Gedanken an Reflexionsphasen und ein Innehalten, das den Boden bereiten könnte für einen Aufbruch, der diesen Namen verdiente.

Dabei gibt es zahlreiche Fragen unserer Gesellschaft, für die das Immerweiter und dessen Beschleunigung wohl nicht mehr die beste Lösung darstellen. Die Fetischisierung von Wachstum und Wettbewerb zählt ebenso dazu wie die fantasielose Fortschreibung des europäischen Projekts als bürokratische Anstalt.

Dass die Fortschritte von Automatisierungstechnologien im Zuge der digitalen Revolution ein Überdenken unseres tradierten Konzeptes von Lohnarbeit ebenso notwendig machte wie eine Neuorientierung in den Fragen von Bildung und Ausbildung, scheint einerseits unabdingbar.

Andererseits gönnen wir uns kaum die Zeit, diese Fragen vorbehaltlos und in Ruhe zu diskutieren. Lieber verfallen wir in einen Reformaktionismus, der in der Regel wenig klärt, viel Verwirrung stiftet, bürokratische Selbstläufer freisetzt und die Menschen am Denken hindert. Muße als Chance, Dinge zu reflektieren, erforderte auch den Mut und die Kraft, einmal nichts zu tun – um dann vielleicht dorthin aufbrechen zu können, wo man tatsächlich auch hin will.

Könnte es nicht reizvoll sein, kurz innezuhalten und die Muße neu zu definieren: sie weder zu verachten noch als mentale Ressource zur Effizienzsteigerung zu missbrauchen, sondern als erstrebenswerte Dimension unseres Daseins anzuerkennen? Solch eine Neuorientierung, aus der Muße, hin zur Muße, wäre tatsächlich ein Aufbruch.

Konrad Paul Liessmann (* 13. April 1953 in Villach) ist ein österreichischer Philosoph, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Liessmann ist Österreichs „Wissenschaftler des Jahres 2006“. Einem breiteren Publikum wurde Liessmann durch seine gesprochenen Beiträge der Ö1-Hörfunkreihe „Denken und Leben“ bekannt, in denen er die namhaftesten Philosophen des Abendlandes biographisch und thematisch erörtert. (Quelle: Wikipedia und eigene Homepage)