Nichtstun als Chance – Wir müssen Innehalten neu lernen (Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann)

(Der Gastbeitrag wurde erstmals als Artikel der Zeitung Wirtschaftswoche, Ausgabe 25.12.2014 veröffentlicht. Danke an den Autor für die Genehmigung den Artikel online auf unserem Blog zu publizieren.)

Muße ist eine Chance, Dinge zu reflektieren. Doch es erfordert Mut und Kraft, einmal nichts zu tun – um dann vielleicht dorthin aufbrechen zu können, wo man tatsächlich auch hin will.

Wer aufbrechen möchte, muss vorher irgendwo gewesen sein. Wer sich ohnehin bewegt, bricht nicht auf, sondern geht einfach weiter. Nur aus einem Ruhezustand, einer Phase relativer Stabilität lässt sich aufbrechen. Das Mindeste, was einem Aufbruch vorhergehen muss, ist die Rast. Das Äußerste, was zu ihm treibt, kann ein Zustand sein, der ein Verweilen zunehmend unerträglich macht.

Wer den Ort, an dem er sich befindet, so schnell wie möglich verlassen will, bricht nicht auf, er flieht – vor einer Katastrophe, einem Feind, einem Verhängnis. Ein Aufbruch bedarf zumindest eines Moments von Freiheit – nur der bricht auf, der auch bleiben könnte.

Wir können nicht leben, ohne nicht immer wieder zu etwas Neuem aufzubrechen. Und doch durchzieht so manchen Aufbruch auch die Trauer des Abschieds: Dass es Zeit sei, aufzubrechen – wer in geselliger Runde diese Mahnung hört, spürt das unangenehm Fordernde des Aufbruchs. Man würde ja noch gerne etwas länger bleiben, aber der Aufbruch darf nicht mehr hinausgezögert werden.

Manchmal bricht man auch auf – aus einem Restaurant, aus einer Gesellschaft, aus dem Urlaub, aus der Fremde –, um zurückzukehren. Man war aufgebrochen, um sich nach einem Abend, einer Nacht, einigen Wochen, einem halben Leben wieder auf den Weg zu machen – dorthin, von wo man aufgebrochen war.

Das Pathos des Aufbruchs lebt vom Gestus des weiten Horizonts: aufbrechen ins Offene, das Sichere zurücklassen, zu neuen Ufern gelangen, sich dem Risiko und Wagnis einer Fahrt ins Unbestimmte und Ungewisse aussetzen, Neuland erkunden. Ins Unbekannte aufzubrechen versetzt uns in eine andere Spannung als ein routinierter Wechsel des Ortes. Der Aufbruch oszilliert so zwischen Erwartung und Abschied, zwischen Zukunft und Herkunft, zwischen Hier und Dort, zwischen Stillstand und Bewegung – allesamt Metaphern für unser Denken und Leben.

Allerdings: Die Moderne versteht sich als Gesellschaft in Bewegung. Sie ist immer schon aufgebrochen, hat erstarrte Verhältnisse hinter sich gelassen, alles Stehende und Ständische zum Verdampfen gebracht. Und seitdem heißt es: nur nicht verharren, nur nicht innehalten, immer dynamisch bleiben, immer vorwärts.

Eine Gesellschaft in Bewegung kann allerdings nirgendwohin mehr aufbrechen, denn sie ist immer schon unterwegs. Sowenig der Reisende, der sich mit hoher Geschwindigkeit auf einer vorgezeichneten Bahn bewegt, sich fragen kann, wohin er nun aufzubrechen gedenkt, sowenig kann sich eine Gesellschaft, die sich in einer Phase der rasanten, beschleunigten Veränderungen wähnt, fragen, ob es nicht allmählich an der Zeit wäre, aufzubrechen.

Die schöne Spannung zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Innehalten und Weitergehen, zwischen Verweilen und Aufbrechen, zwischen Muße und Aktivität geht in einer Zeit verloren, in der Unterwegssein zur einzig legitimen Daseinsform erklärt wird.Um in solch einer Gesellschaft überhaupt wieder aufbrechen zu können, müssten erst die Orte und Zeiten der Ruhe, der Muße, der Kontemplation wieder geschaffen und aufgesucht werden können, die jene Erfahrung erlauben, die jeden Aufbruch grundiert: Jetzt, nach einer Phase des Verweilens, ist es Zeit zu gehen. Erst dann könnten wir auch wieder fragen: Und wohin soll es gehen?

Rastlosigkeit unterbrechen

Aus einer Bewegung aufzubrechen erfordert so zumindest eine Zäsur; eine Unterbrechung; eine Rast. Diese mag nur dem erschöpften Körper, dem müden Geist wieder die Kraft zum Weitergehen verschaffen. Sie kann aber auch einen Punkt markieren, an dem die Ziele neu definiert werden.

So wie der Wanderer, der sich verirrt hat oder eine Rast einlegt, um sich neu zu orientieren, und dann mit neuen Kräften aufbricht, so könnten auch Menschen, Unternehmen und Kulturen ihre Rastlosigkeit unterbrechen und wenigstens kurz innehalten, um sich über ihre weitere Vorgehensweise klar zu werden und dann vielleicht in eine andere als die bislang eingeschlagene Richtung aufbrechen.

Vielleicht sollte man den Phasen, in denen sich Einzelne oder Gemeinschaften über die Richtung ihrer Entwicklung klar werden wollen, vielleicht sollte man all den Diskussionen um Standortbestimmungen und Zielvorstellungen wieder verstärkt den Charakter von Unterbrechungen und Moratorien geben, die es erlaubten, eine gelungene Neuorientierung, eine Änderung der Ziele und Perspektiven auch als Aufbruch, als einen Neubeginn, als bewusste Entscheidung zu erfahren und zu zelebrieren. Jeder Aufbruch bedarf auch seiner Rituale.

Die Gesten des Abschieds von dem, was man zurücklässt, gehören ebenso dazu wie die Formen und Formeln, durch die man sich seiner inneren und äußeren Bereitschaft versichert, einen neuen Schritt zu wagen.

Mut zur Denk- und Atempause

Im Selbstverständnis unserer Gesellschaft und ihrer Akteure ist für solche Zäsuren und ihre Rituale allerdings kein Raum mehr. Der von allen akzeptierte Imperativ des bedingungslosen Immerweiter erlaubt kein Innehalten, schon gar keine Umkehr, um andere Pfade als die beschrittenen zu versuchen.

Die Fortsetzung noch der unsinnigsten Reform wird ja gerne damit begründet, dass man doch nicht zu alten Zuständen zurückkehren könne. Das ist ungefähr so plausibel wie die Empfehlung an einen Autofahrer, der sich in eine Sackgasse manövriert hat, doch unbedingt weiterzufahren, notfalls auch gegen eine Wand, denn er werde doch nicht umdrehen und dorthin zurückkehren wollen, wo er schon einmal gewesen war.

Innehalten, um Fehlentwicklungen zu korrigieren, erforderte auch den Mut, Denk- und Atempausen einzulegen, Distanz zu gewinnen und notfalls zum Ausgangspunkt zurückkehren, um von dort eine andere Richtung einzuschlagen.

Die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch erwächst so aus einer Phase der Ruhe und Besinnung, die vielleicht noch immer am besten mit dem etwas aus der Mode gekommen Begriff der Muße gekennzeichnet ist. Das altgriechische Wort für „Muße“ war „scholé“, von dem sich auch unsere „Schule“ ableitet.

Es bezeichnete ursprünglich die Stätte, an der man sich aufhielt, wenn man nicht arbeiten musste. Die Antike sah in dieser Muße übrigens die entscheidende und erstrebenswerte Weise des Daseins überhaupt, die Arbeit hingegen als das, was eigentlich vermieden werden sollte. Arbeit war dann auch definiert als Negation der Muße: „ascholia“.

Diese Muße war allerdings alles andere als ein Nichtstun. Sie war keine leere Zeit, die mit Unterhaltung und Zerstreuung gefüllt werden musste, sondern die Zeit, über die man frei verfügte und die man konzentriert den Dingen des Lebens widmen konnte, die ihren Wert in sich trugen und nicht Mittel zum Zweck waren: Schönheit, Erkennen, Freundschaft, Erotik.

Vom Wettbewerb getrieben

Im Müßiggang des Flaneurs mag sich dieses Konzept zumindest als Randphänomen auch in die Moderne gerettet haben. Der absichtslose, dennoch höchst aufmerksame Müßiggang ist dann auch die einzige Bewegung, die in einen Aufbruch umschlagen kann: Wenn es irgendwann dann doch etwas zu tun gibt.

Erst die Moderne machte aus der Arbeit eine Tugend und aus dem Müßiggang den Anfang aller Laster. Seitdem fürchten wir uns vor der Muße, bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn wir nicht ständig dynamisch, in Bewegung und produktiv sind. Und wenn wir uns einmal zurücklehnen und durchatmen wollen, nennen wir dies nicht mehr Muße, sondern Regenerationsarbeit. Noch in der Untätigkeit müssen wir tätig sein, auch der Schlaf will mittlerweile effizient organisiert sein.

Einer Gesellschaft, die sich diese Muße glaubt nicht mehr leisten zu können, wird aber die Kraft zu einem wirklichen Aufbruch fehlen. Sie wird wohl in Bewegung bleiben, aber nirgendwohin aufbrechen können. Das ständig präsente Gefühl, von Märkten, Innovationen, dem Wettbewerb und der Konkurrenz getrieben zu sein, die omnipräsente Angst, sofort zurückzubleiben und alles zu verlieren, gönnte man sich nur eine Pause, die fatalistische Vorstellung, dass man nicht der Gestalter der Zukunft wäre, sondern nur auf diese reagieren könne, die Zustimmung zu einer Welt, in der angeblich die Sachzwänge kaum noch Besinnung und Alternativen zuließen – all dies sabotiert jeden Gedanken an Reflexionsphasen und ein Innehalten, das den Boden bereiten könnte für einen Aufbruch, der diesen Namen verdiente.

Dabei gibt es zahlreiche Fragen unserer Gesellschaft, für die das Immerweiter und dessen Beschleunigung wohl nicht mehr die beste Lösung darstellen. Die Fetischisierung von Wachstum und Wettbewerb zählt ebenso dazu wie die fantasielose Fortschreibung des europäischen Projekts als bürokratische Anstalt.

Dass die Fortschritte von Automatisierungstechnologien im Zuge der digitalen Revolution ein Überdenken unseres tradierten Konzeptes von Lohnarbeit ebenso notwendig machte wie eine Neuorientierung in den Fragen von Bildung und Ausbildung, scheint einerseits unabdingbar.

Andererseits gönnen wir uns kaum die Zeit, diese Fragen vorbehaltlos und in Ruhe zu diskutieren. Lieber verfallen wir in einen Reformaktionismus, der in der Regel wenig klärt, viel Verwirrung stiftet, bürokratische Selbstläufer freisetzt und die Menschen am Denken hindert. Muße als Chance, Dinge zu reflektieren, erforderte auch den Mut und die Kraft, einmal nichts zu tun – um dann vielleicht dorthin aufbrechen zu können, wo man tatsächlich auch hin will.

Könnte es nicht reizvoll sein, kurz innezuhalten und die Muße neu zu definieren: sie weder zu verachten noch als mentale Ressource zur Effizienzsteigerung zu missbrauchen, sondern als erstrebenswerte Dimension unseres Daseins anzuerkennen? Solch eine Neuorientierung, aus der Muße, hin zur Muße, wäre tatsächlich ein Aufbruch.

Konrad Paul Liessmann (* 13. April 1953 in Villach) ist ein österreichischer Philosoph, Essayist, Literaturkritiker und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik an der Universität Wien. Liessmann ist Österreichs „Wissenschaftler des Jahres 2006“. Einem breiteren Publikum wurde Liessmann durch seine gesprochenen Beiträge der Ö1-Hörfunkreihe „Denken und Leben“ bekannt, in denen er die namhaftesten Philosophen des Abendlandes biographisch und thematisch erörtert. (Quelle: Wikipedia und eigene Homepage)